Wie Datenanalyse und Künstliche Intelligenz helfen, etablierte Industrieprozesse zu optimieren.
Rund 400 Gießereibetriebe mit etwa 80 000 Beschäftigten (Betriebe über 50 Beschäftigte) gibt es in Deutschland. Die Traditionsbranche gehört zwar nicht zur New Economy, ist aber systemrelevant für den Produktionsstandort Deutschland. Wie die gesamte Industrie steht auch die Gießerei- Industrie vor einem elementaren Wandel. Die Herausforderungen sind unter anderem Ressourceneffizienz, veränderte Anforderungen der Automobilindustrie und nicht zuletzt die Digitalisierung. Die beiden erstgenannten Punkte werden häufig bereits von Kunden der Gießereien, also mehrheitlich der Automobilindustrie, nachgefragt. Das heißt, es gibt meist konkrete Anforderungen und Vorstellungen, wie Ergebnisse aussehen sollen. Die Gießereien können sich demnach auf die Suche nach Lösungen machen und Prozesse verbessern. Beim letzten Punkt, der Digitalisierung, ist es nicht ganz so einfach.
Ein Blick über den Atlantik, ins Silicon Valley etwa, zeigt zwar, wohin die Reise geht. Aber welche konkreten Anwendungsfelder „Industrie 4.0“ oder „Machine Learning“ im Gießereiprozess haben, muss sich erst noch herausstellen. Definitiv klar fällt die Bestandsaufnahme aus: Die Gießerei-Industrie hinkt im Bereich der Digitalisierung anderen Industrien weit hinterher. Um diesen Rückstand aufzuholen, beteiligte sich Laempe Mössner Sinto, Barleben, Anfang 2017 am Nürtinger Start-up pragmatic industries und gründete gemeinsam mit der R. Scheuchl GmbH das Joint Venture Inacore GmbH. (Siehe Unternehmensreportage).
Sind Daten das „Öl des 21. Jahrhunderts“?
Elementar mit der Digitalisierung einher geht die Entwicklung, dass wir im Zeitalter der Daten leben. Die Vielfalt, die Menge und die Qualität der vorhandenen und erfassten Daten ist schon jetzt nur schwer zu fassen. Die Laempe Mössner Sinto GmbH, pragmatic industries und die R. Scheuchl GmbH haben sich in vielen Gesprächen der Frage genähert, was die Digitalisierung in der Gießerei bedeutet. In Bezug auf Daten wurde die Frage erörtert, was die Daten bringen sollen, schließlich geht es um komplexes Prozesswissen und Erfahrungen. Darüber hinaus war eine weitere bedeutsame Frage der Gespräche, wozu die Digitalisierung überhaupt erforderlich ist?
Die einfache Antwort lautete übereinstimmend: Digitalisierung verschafft Zeit und Transparenz. Auf diese Weise können Unternehmen Kostensenkungspotenziale (z. B. Reduzierung administrativer Tätigkeiten, Senkung der Einzelbauteilkosten) erkennen und nächste Schritte einleiten. Darüber hinaus können Möglichkeiten zur Produktionsoptimierung und der systematischen Fehleranalyse erkannt und umgesetzt werden. Gerade in der Kernmacherei – das ist das Feld, in dem wir uns vor allem bewegen – gibt es Situationen, in denen bei augenscheinlich gleichen Bedingungen unterschiedliche Kernqualitäten produziert werden. Dieser Teilvorgang im komplexen Gießereiprozess unterliegt einer großen Vielfalt von Einflussgrößen.
Als besonderer Schwierigkeitsgrad stellt sich vor allem heraus, dass einige dieser Einflussgrößen immer noch unbekannt sind und einige der bekannten Einflussgrößen nicht unmittelbar beeinflussbar sind. Jedem Fachmann sind Aussagen wie „Bis gerade eben hat die Produktion dieses Kerns problemlos funktioniert, jetzt plötzlich kommt kein guter Kern mehr aus der Büchse – und wir haben nichts geändert“ (leider!) geläufig. Dieses Symptom ist in der betrieblichen Praxis also eine Tatsache. Ist die Fehlerursache nicht offensichtlich bzw. bekannt, dann basieren Ursachenfindung und Problembehebung meist auf dem Erfahrungsschatz der Mitarbeiter und sind nur bedingt strukturiert. Die Dokumentation der Schritte zur Fehlerbehebung wird oft vernachlässigt, so dass eine Reproduzierbarkeit von Ursache, Maßnahme und Ergebnis nur selten gegeben ist. Häufig kommt man nach einer Reihe von Maßnahmen wieder beim Ausgangsparametersatz an, die Produktion läuft wieder, und keiner weiß, wieso.
Ein Etappenziel: Mit Digitalisierung Prozesstransparenz herstellen
In einem ersten Schritt gilt es zu klären, wie die Digitalisierung dabei helfen kann, diese Prozesse besser zu verstehen und eine Prozesstransparenz herzustellen. Bei der Kernherstellung laufen eine Vielzahl physikalischer und chemischer Prozesse gleichzeitig ab. Durch ein Monitoring möglichst vieler Parameter, die diese Prozesse beeinflussen, wird es möglich, Rückschlüsse zu ziehen, welche Parameteränderungen und Kombinationen von Parameterveränderungen den Gesamtprozess negativ beeinflussen können. Zunächst wird der Gießereiprozess live dargestellt. Das heißt, der Produktionsprozess kann während der Produktion beobachtet werden, sodass jegliche Änderung im Ablauf sofort sicht- und nachvollziehbar wird. Auf diese Weise kann bei kritischen Werten sofort Alarm geschlagen werden. Dadurch können wiederum die Datensätze (z. B. verschiedener Maschinen) miteinander verknüpft und im nächsten Schritt historische Daten analysiert werden.
Genau diese Schritte werden aktuell bei Inacore umgesetzt, dem Joint-Venture zwischen Laempe Mössner Sinto und der R. Scheuchl GmbH aus Ortenburg. Diese moderne Kernmacherei, die von Ergoldsbach bei Landshut Kerne für die Leichtmetallgießerei von BMW liefert, bietet schon jetzt eine 100-prozentige Teileverfolgung sowie die 100-prozentige Datentransparenz aller Maschinen und Anlagen. Dazu gehört beispielsweise auch die komplette Vernetzung mit dem BMW-Lager. Als nächsten Schritt plant Inacore die Realisierung des automatisierten Lagers mittels fahrerlosem Transportsystem und automatischer Ein- und Auslagerung. Weitere Schritte im Sinne einer ganzheitlichen Digitalisierungsstrategie sollen bei der Inacore folgen.
Das übergeordnete Ziel: Steigerung der OEE mit Digitalisierung
Die große Frage in der Praxis lautet: Wie kann durch Digitalisierung und Prozesstransparenz die Effizienz gesteigert werden? Viele Gießereileiter kennen die strengen Vorgaben des Managements, und viele von ihnen standen auch schon einmal vor dem Problem, dass die Gesamtanlageneffektivität (Overall Equipment Effectiveness – OEE) im Vergleich zur Vorwoche deutlich gesunken ist, und man sich zunächst nicht erklären konnte, was sich verändert hat. Eine permanente Analyse der Anlagendaten kann helfen, den OEE permanent zu berechnen und hinsichtlich Qualität, Leistung und Verfügbarkeit aufzuschlüsseln. Dadurch wird es möglich, sehr schnell herauszufinden, was sich geändert hat und in welche Richtung die Analyse zu vertiefen ist. Konkret heißt das, dass durch die Digitalisierung nachvollziehbar wird, wer was wann wieso verändert hat und welche Folgen das hatte.
Zusammenspiel von Technologie und Mensch als Schlüssel
Neben den reinen Daten sind bei der Wissensbasis Technologen und erfahrene Bediener zu berücksichtigen, die viel Erfahrung sowie ein gutes Gespür und das sprichwörtliche Bauchgefühl für bestimmte Fehler und deren Behebung haben. Das Ziel einer vernünftigen Digitalisierungsstrategie muss es sein, dieses Gespür und die Erfahrungen in die Auswertung einzubeziehen und so in der Breite nutzbar zu machen. Dadurch kann die gesamte Kernmacherei optimal reagieren und auf das Wissen und das Können allgemein(er) zugreifen und darüber verfügen. Dafür wird Künstliche Intelligenz genutzt, sodass optimale Verhaltensweisen vorhergesagt werden können. Parallel zur Optimierung der Prozesse im Hinblick auf den OEE gilt es, die Kosten transparent zu machen und Einsparpotenziale aufzudecken. Durch die Digitalisierung entstehen mannigfaltige Möglichkeiten, den Einsatz von Maschinen, Werkzeugen oder Personal detailliert zu dokumentieren und auszuwerten.
Ein bedeutsamer „quick win“: Stromverbrauch durch Monitoring senken
Ein gutes Beispiel hierfür ist der Stromverbrauch. Basierend auf einem detaillierten Monitoring des Gesamt-Strombedarfs sowie des Bedarfs der individuellen Anlagen können Potenziale aufgedeckt und bewertet werden. Im Ergebnis können An- und Abschaltlogiken sowie Stromspitzenpuffer entwickelt werden, sodass signifikante Einsparungen ohne negative Nebeneffekte realisierbar sind. Neben der Einsparung von Kosten ergibt sich hier ein weiterer positiver Effekt, da inzwischen auch auf Gießereien ein nicht unerheblicher Druck lastet, Energie zu sparen. Ein zweites Beispiel sind die Produktionsmengen. Basierend auf einem detaillierten Echtzeit-Monitoring der Produktionsmengen/ Maschinenzyklen je Stunde können Produktivitätspotenziale sichtbar gemacht werden – im Speziellen bei einer weiteren automatischen Datenverkettung zum OEE.
Daraus lassen sich optimierte Maschinenbelegungen ermitteln und das Potenzial zur Einsparung einer Maschine oder einer anderen (optimaleren) Verwendung erkennen. Man kann also sehen, warum man nicht auf die geplanten Produktionsmengen kommt – ob zu viel Ausschuss, eine falsche Maschinenauslastung oder andere organisatorische Mängel wie Probleme in der Logistik oder die Arbeitsplatzgestaltung zum Flaschenhals werden. Ein Ergebnis der Analyse könnte z. B. sein, dass neue Kernregale beschafft werden müssen. Denn durch den Mangel an Kernregalen, in denen die Kerne abgelegt werden müssen, können neue Kerne nicht aus den Maschinen entnommen und daher keine weiteren Kerne produziert werden. Die Produktion steht still und verursacht dennoch weiter Kosten.
Fazit: Kernmacherei 4.0 beginnt mit einem echtzeitfähigen Maschinenmanagersystem
Die Digitalisierung und die Möglichkeiten des „Internet of Things“ werden die Prozesse in der Gießerei nachhaltig verändern. In die nahe Zukunft geblickt ist es denkbar, dass Geräte mit ihren Bedienern auf intelligente Art „kommunizieren“, zum Beispiel, um konkrete Vorhersagen zu treffen. Es könnten intelligente Werkzeuge mit Sensorien und einer Schnittstelle zur Kernschießmaschine entstehen. Auf die Kernherstellung bezogen kann so die Erhöhung der Gesamtanlageneffektivität (OEE) und damit die Senkung der Einzelbauteilkosten von Kernen erreicht werden. Diese Ziele lassen sich nur realisieren, wenn die Prozesstransparenz, gerade auch in der Kernherstellung, in einem ersten Schritt erhöht wird. Aktuell orientiert sich die Prozessführung bei der Kernherstellung zum einen am Erfahrungswissen der Technologen und Maschinenbediener und zum anderen an idealisiertem Prozesswissen.
Das bildet die komplexen physikalischen und chemischen Prozesse jedoch nur eingeschränkt ab und lässt einflussnehmende Faktoren wie Umweltbedingungen außer Acht. Um diesen und weiteren Problemstellungen zu begegnen, ergeben sich durch das Aufkommen von Methoden zur Verarbeitung großer Datenmengen (Big Data) sowie den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) ganz neue Ansätze. Vorrangig ist daher die Entwicklung eines maßgeschneiderten, echtzeitfähigen Maschinenmanagersystems zur komplexen Zustandsüberwachung (Erkennung und Informationsanalyse über den Verschleißzustand und anschließender Fehlermeldung einzelner Bauteile/Funktionsgruppen) und zur intelligenten Steuerung von Kernschießmaschinen. Damit ist der erste Schritt zur Realisierung der „Kernmacherei 4.0“ getan.
Rudolf Wintgens, Geschäftsführer der Laempe Mössner Sinto GmbH; Julian Feinauer, Geschäftsführer und Gründer der pragmatic industries GmbH
VON RUDOLF WINTGENS, BARLEBEN, UND JULIAN FEINAUER, NÜRTINGEN
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AutomobilindustrieDigitalisierungGestaltungGießereiIndustrie 4.0KernherstellungLogistikProduktion